Übungen im Unterricht
Bislang gibt es kein Suizidpräventionsprogramm, das im Rahmen des Curriculums verankert ist. Die Abhandlung des Themas Suizid/Tod im Rahmen des Unterrichts dient der Enttabuisierung. Die Berührungsängste werden durch das Darüber sprechen abgebaut. Es wird möglich, angstfreier über Todesvorstellungen nachzudenken und dies mitzuteilen. Es gibt einige Möglichkeiten, in verschiedenen Fächern das Thema Suizid zu integrieren. Im Deutschunterricht z. B. bei der Lektüre von Goethes "Die Leiden des jungen Werther" oder Mark Twains "Die Abenteuer des Tom Sawyer", im Biologieunterricht im Rahmen von Gesundheitskunde unter dem Thema Pubertät und Adoleszenz, im Religions- und Philosophieunterricht bei dem Thema Leben versus Tod, im Fach Arbeitslehre beim Projekt "Betreuen und Beraten" (hier könnten die Schüler z. B. Beratungsstellen aufsuchen und in der Klasse darüber berichten).
Im folgenden Abschnitt möchten wir einige praktische Übungen beschreiben, die Sie im Unterricht verwenden können. Es empfiehlt sich jedoch, vor diesen Übungen gruppendynamische Aspekte zu beachten. Ihre Einschätzung der aktuellen Beziehungskonstellationen in der Klasse ist dafür notwendig.
Ist es möglich, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, in der jeder Schüler an der Diskussion teilnehmen kann - oder gibt es zur Zeit viele Spannungen zwischen den Schülern, die Ihr Vorhaben ungünstig beeinflussen könnten? In diesem Falle wäre es günstig, die Spannungen anzusprechen und mit den Schülern gemeinsam eine Klärung vorzunehmen.
Während das Thema besprochen wird, ist es möglich, dass einige Schüler Abwehrreaktionen zeigen. Dies kann durch Lachen, spaßige Bemerkungen oder Zynismus zum Ausdruck kommen. Es empfiehlt sich, diese Reaktion möglichst wertfrei anzusprechen, um den Schülern ihr eigenes Verhalten bewusster zu machen und das Reflektieren darüber zu ermöglichen. Gleichzeitig sollten Sie für die Bearbeitung des Themas genügend Zeit veranschlagen, damit die Schüler zu Wort kommen können. Da es möglich ist, dass einige Schüler schon selbst Suizidgedanken hatten, ist es wichtig, auf die Signale zu achten.
1. Übungsvorschlag
In der folgenden Übung geht es darum, einige allgemein verbreitete Vorurteile über das Thema Suizid zu benennen und zu hinterfragen. Es werden drei Aussagen an die Tafel geschrieben. Sie könnten lauten:
- Wer von Suizid spricht, tut es nicht.
- Wer über Suizid nachdenkt, ist verrückt.
- Durch das Ansprechen von Selbstmordgedanken bringe ich den anderen erst auf die Idee, sich umzubringen.
Die Klasse wird in drei Gruppen geteilt. Jede Gruppe diskutiert über eine der oben genannten Aussagen. Alle drei Aussagen stimmen nicht. Es sind oft wiederholte Vorurteile, die auf Unwissenheit und Angst vor diesem Thema basieren.
Zu 1: Die große Mehrheit der Suizidversuche wurde vorher angekündigt. Auf verschiedene Weise wurde verbal oder nonverbal (z. B. durch Malen von Bildern) signalisiert: ich kann nicht mehr weiter... ich brauche Hilfe, es geht mir sehr schlecht ... ich sehe keinen Ausweg mehr aus meiner Situation. Leider wurden diese Signale oft überhört und die notwendige Hilfe nicht eingeleitet.
Zu 2: Im Jugendalter gehören die Gedanken über den Tod und den Sinn des Lebens zum Entwicklungsprozess. Sie sind nicht pathologisch oder verrückt. Wenn die gesellschaftliche Akzeptanz größer wäre, ließe sich angstfrei darüber sprechen, und wir würden erfahren, dass solche Gedanken nicht selten sind.
Zu 3: Die dritte Aussage kann man ebenfalls klar verneinen. Ein offenes Ansprechen von Suizidgedanken oder -phantasien entlastet den Jugendlichen. Niemand wird durch ein Gespräch über Suizid auf die Idee gebracht, sich umzubringen.
Anschließend berichten die drei Arbeitsgruppen. Die Diskussion kann dann von der ganzen Klasse fortgesetzt werden.
2. Übungsvorschlag
Mit der vorgeschlagenen Gesprächsrunde für die Klasse soll den Suizidgedanken das Pathologische genommen und die suizidalen Gedanken besprechbar werden. Damit sollen Jugendliche entlastet und ihnen vermittelt werden: "Du kannst darüber sprechen!"
Es wird ein Ausschnitt aus Mark Twains Buch "Tom Sawyer" vorgelesen. Zur Erinnerung: Tante Polly bevorzugt deutlich den "Musterknaben" Sid, wenngleich im Buch deutlich wird, dass sie in ihrer Mischung aus Strenge und Güte unter ihrer rauen Schale doch beide so unterschiedlichen Jungen liebt. Der zitierten Situation geht voraus, dass Sid eine Zuckerdose in Abwesenheit der Tante heruntergeworfen hat. Tom freut sich schon darauf, dass Sid nun auch mal was abkriegt, aber Tante Polly - nachdem sie die Bescherung gesehen hat - gibt unversehens Tom eine kräftige Ohrfeige.
"Halt; Lass doch los! Warum haust du mich denn? Sid hat's doch getan!' Tante Pollys erhobene Faust sank noch einmal mechanisch klatschend auf sein Rückenende, dann hielt sie inne, erstaunt, verwirrt, während Tom in der Erwartung, dass jetzt ein selbstanklagender tröstender Mitleidsausbruch erfolgen müsse, vorwurfsvoll zu ihr empor starrte. Aber als sie endlich wieder zu Atem kam, war alles, was sie sagte: ,Schadet nichts, wenn du auch mal einen Schlag zu viel kriegst. Bist dafür schon manchmal leer ausgegangen, wenn du was Ordentliches verdient hättest!' Aber sie fühlte doch Gewissensbisse und hätte ihm gern etwas Liebes und Freundliches gesagt. Sie fürchtete jedoch, es könnte als Zugeständnis ihres Unrechts aufgefasst werden, und so etwas verbot die Disziplin. So schwieg sie und ging bekümmerten Herzens ihrer Arbeit nach. Tom aber zog sich in einen Winkel zurück und wühlte in seinem Schmerz ob der ungerechten Behandlung. Er wusste, dass die Tante in Gedanken vor ihm auf den Knien lag, und dieser Gedanke erfüllte ihn mit grimmiger Genugtuung. Er spürte, wie ihn hin und wieder ein liebevoller Blick aus tränenverschleierten Augen traf, aber er tat, als merke er es nicht. Er sah sich krank, sterbend auf seinem Bette; die Tante beugte sich händeringend über ihn und flehte um ein einziges Wort der Verzeihung. Er aber kehrte sein Gesicht der Wand zu, ohne das Wort zu sprechen, und starb. Oh, welche Reue sie dann hätte! - Und wieder sah er sich, wie man ihn vom Flusse nach Hause brachte, tot, mit triefenden Haaren, die armen Glieder starr und steif, und Friede in seinem wunden Herzen - Friede für immer. Wie würde sie sich dann über ihn werfen und unter Strömen von Tränen zu Gott flehen, er möchte ihr doch ihren Jungen wieder geben, sie wollt ihm auch nie, nie wieder Unrecht tun. Er aber läge da - kalt, weiß und starr - ein armer Dulder, dessen Leiden nun ein Ende hatten. - So schwelgte er in den schauerlichsten Vorstellungen, bis er schließlich vor lauter Mitleid mit sich selbst kaum das Schluchzen unterdrücken konnte. Seine Augen standen voll Wasser, und wenn er blinzelte, floss es über, lief vorn die Nase herunter und fiel an ihrer Spitze in einem Tröpfchen zu Boden. Und doch empfand er bei diesem Wühlen in seinem Elend eine solche Wollust, dass er sich in seinem Schmerz nicht stören lassen wollte durch irgendeinen Laut irdischer Lust oder brutaler Freude - denn er war viel zu heilig für eine Berührung mit der profanen Welt..." (zitiert nach K.-U. Nöhring. In diesem Aufsatz findet sich eine ausführliche Deutung dieser Passage.)
Anschließend sollte in der Klasse Raum sein für spontane Äußerungen zu diesem Ausschnitt. Vielleicht kommen zunächst Bemerkungen zu der ungerechten Behandlung Toms und damit verbunden eigene Erfahrungen ungerechter Behandlung in der Familie.
Kennt ihr solche Situationen oder ähnliche Gefühle wie Tom?
Wie geht ihr damit um?
Habt ihr jemanden, dem ihr solche Gedanken mitteilen könnt?
ist es möglich, bei uns in der Klasse auch Gefühle von Traurigkeit und Nicht-mehr-Weiterwissen zu äußern?
3. Übungsvorschlag
Ein sehr direkter und wenig angstauslösender Zugang zu den Gefühlen der Schüler kann das Malen von Bildern sein. Die Aufgabe kann folgendermaßen lauten:
Stellt euch vor, wie es in jemandem aussehen mag, der große Probleme hat, sich ganz schlecht fühlt, nicht mehr weiterweiß. Versucht, diese Gefühle in einem Bild auszudrücken. Das können nur Farben sein, Gegenstände, Menschen, was euch einfällt, ohne Anspruch auf künstlerische Leistung. Jeder konzentriert sich auf sich und sein Bild. Ihr habt ca. 15 Minuten Zeit.
Anschließend werden die Bilder in der Runde besprochen. Von jemand anderem zu sprechen, ist leichter, als sich selbst offenbaren zu müssen. Trotzdem werden viele Schüler ihre eigenen Gefühle beschreiben. Im Gespräch können die Schüler überlegen: Wer kann demjenigen helfen? Wo kann er sich Hilfe holen?
An diese Übung kann sich ein Rollenspiel anschließen. Die Großgruppe wird in Vierergruppen aufgeteilt. Zwei Schüler setzen sich zu einem Gespräch zusammen. Die beiden anderen beobachten, was passiert, ohne sich einzumischen, und stellen sich vor, wie sie sich wohl in der Rolle der anderen fühlen würden. Ein Schüler beschreibt ein schwerwiegendes Problem, vertraut
sich einem Freund oder einer Freundin an, der andere versucht, im Gespräch zu helfen. Die Rollen können gewechselt werden. In dieses Rollenspiel sind meistens auch die Jungen zu integrieren, die auf "gefühlsbetonte" Themen ansonsten eher abwehrend reagieren.
Die Gruppen berichten anschließend in der Runde von ihren Erfahrungen. Wie haben sie sich in der Rolle des "Beratenden" gefühlt, wie in der des "Problemfalls"? Was ist den Beobachtern aufgefallen? Haben sie sich getraut, die Probleme direkt anzusprechen? Haben sie mehr zugehört oder eher Ratschläge gegeben?
Wenn es für die Schüler zu schwierig ist, einen abstrakten Fall zu konstruieren, kann auch der Beginn einer "Fallgeschichte" vorgegeben werden, z. B.: Niko ist 16 Jahre alt, er wohnt bei seinen Eltern, er hat einen zwei Jahre jüngeren Bruder. In der letzten Zeit sind seine Noten schlechter geworden, er zieht sich von seinen Freunden zurück. Er hat angedeutet, dass ihm das Leben keinen Spaß mehr macht.
Genauso kann auch die Geschichte eines Mädchens eingesetzt werden. Wenn Jungen beteiligt sind, kann es aber ratsam sein, im Fallbeispiel einen Jungen zu wählen. Selbsttötungsgedanken werden häufiger bei Mädchen vermutet, die Suizidrate ist aber bei Jungen wesentlich höher. Jungen fällt es immer noch sehr viel schwerer, ihre Gefühle im Gespräch zu äußern und sich in Problemsituationen Hilfe zu holen.
Die Schüler können anhand dieser Vorgaben, die noch keine Problemsituationen beschreiben, die Geschichte selbst weiterentwickeln. Folgende Fragen können einen Leitfaden bilden: Welche Probleme könnte Niko haben? Welche Gefühle werden möglicherweise durch diese Probleme bei ihm ausgelöst? Wie könnte eine Hilfe aussehen, an wen könnte er sich wenden?
Als Lernziele soll den Schülern vermittelt werden:
Für die meisten Probleme gibt es eine Lösung.
Nicht alle Probleme lassen sich alleine lösen. Manchmal ist es wichtig, sich Hilfe zu holen (für sich selbst oder für jemand anderen). Das ist ein Ausdruck von Stärke, nicht von Schwäche.
Ich darf den anderen ansprechen, wenn ich das Gefühl habe, dass er ernsthafte Probleme hat. Ich lasse mich dabei nicht so schnell abweisen. Ich darf mir aber auch Hilfe holen, wenn ich mich überfordert fühle. Es gibt Situationen, in denen ich die Hilfe von Erwachsenen einschalten muss (wenn z. B. eine Suizidabsicht konkret geäußert wurde).